Menschen mit Behinderungen sollten lernen auf die Ängsten anderer einzugehen und Lösungen anzubieten: Eine Unterhaltung mit Karen Schallert

Wie wir bereits berichtet haben, haben wir für unsere neuen Dialogue Online for Inclusion-Workshops begonnen, mit Moderator*innen zusammenzuarbeiten, die neben Seh- oder Hörbehinderungen auch andere Behinderungen haben.

Portrait von Karen Schallert, im Rollstuhl sitzend.

Eine dieser neuen Inklusionsbegleiterinnen ist Karen Schallert aus Deutschland, eine ehemalige Personalleiterin, die heute als Coach und Referentin arbeitet. Sie lebt seit 2000 mit Multipler Sklerose.

Und ich hatte Gelegenheit, mit ihr zu sprechen.

DSE: Karen, du gehörst zu der Mehrheit der Menschen mit Behinderung, bei denen die Behinderung im erwerbsfähigen Alter aufgetreten ist.

KS: Ja. Als ich Anfang Dreißig war, reiste ich in die Toskana. Beim Wandern reagierten meine Füße nicht so, wie ich es wollte, ich war unerklärlich müde und meine Finger waren taub.

Nach dem Urlaub wurde bei mir Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert. Es war eine sehr schwierige Zeit für mich.

Ich war noch im Krankenhaus, als ich einen Anruf von McKinsey erhielt. Sie wollten mich für einen Job interviewen. Ich bekam die Stelle tatsächlich einen Tag nach der Diagnose angeboten. Ich war sehr unsicher, denn ich wusste nicht, wie sich die Multiple Sklerose bei mir entwickeln würde und ob ich bald einen Rollstuhl brauchen würde.

DSE: Ein Jobangebot einen Tag nach der Diagnose klingt nicht nach einer schlechten Nachricht.

KS: Und ein paar Jahre später, als ich das Angebot bekam, Personalleiterin bei TGE Marine Gas Engineering zu werden, wurde die Diagnose MS erneut bestätigt.

DSE: Wie wirkt sich die Multiple Sklerose auf dich aus?

KS: Es war bei mir ein fortschreitender Verlauf. Zum Zeitpunkt meiner Beförderung hatte ich Schwierigkeiten beim Gehen, für Außenstehende war es aber nicht sichtbar. Ich wusste nicht, ob ich diesen neuen Job annehmen sollte. Denn Stress und Multiple Sklerose sind keine gute Kombination.

Der Zeitpunkt, in dem ich auf einen Rollstuhl angewiesen war, kam sechs Jahre nach meiner Beförderung. Am Anfang brauchte ich ihn nur für lange Spaziergänge. Im Büro habe ich den Rollstuhl nicht benutzt. Ich habe mich sehr bemüht, mich nur auf meine Arbeit zu konzentrieren und habe die Behinderung aus meinem Job herausgehalten. Ich wollte nicht, dass sie ein Teil meines Arbeitslebens ist.

DSE: Du warst also in einer Art Überlebensmodus.

KS: Ja, das war ich. Ich wollte immer zu den motivierten, karriereorientierten, jungen Führungskräften gehören. Eine Behinderung und meine Karriereziele passten in meinen Augen nicht zusammen.

DSE: Hattest du bis zu diesem Zeitpunkt schon Kontakt zu einer anderen Person mit Behinderung?

KS: Ich kannte keine Menschen mit Behinderung so wie mich, die in einem großen Unternehmen in einer Führungsposition arbeitete. Diejenigen, die ich getroffen hatte, waren schon in Teilrente und waren sehr pessimistisch. Ich konnte mich nicht mit ihnen identifizieren.

Ich besuchte eine Multiple-Sklerose-Selbsthilfegruppe und war von den Schicksalen der Menschen so geschockt, dass ich sofort weglaufen wollte.

Der andere Ort, an dem ich Menschen mit Behinderungen traf, war die neurologische Praxis, ein Ort, an dem wir uns natürlich nicht wohlfühlen.

DSE: Konntest du trotz deiner Behinderung den Fokus auf deine Karriere behalten?

KS: Mein Zustand verschlimmerte sich. Ich erreichte den Punkt, an dem ich das Unternehmen über die Multiple Sklerose informieren musste. Zunächst wurde ich von Leiterin der Personalabteilung zur Personalspezialistin zurückgestuft. Aber ein Jahr nach der Teilung des Unternehmens und der damit verbundenen Veränderung wurde ich wieder Personalleiterin.

Der neue geschäftsführende Vorstand hatte kein Problem mit meiner Multiplen Sklerose. Aber das Problem war in meinem Kopf: Ich hatte das Gefühl, dass ich dem Unternehmen zur Last falle, weil ich fünf Urlaubstage mehr bekam und ich öfter krank werden könne als andere.

Damals war ich der Meinung, dass ich nicht noch mehr Leute einstellen sollte, die dem Unternehmen zur Last fallen. Ich wusste, dass die Manager mich mochten und ich wusste, dass ich gute Arbeit leistete, aber ich war damals nicht in der Lage, den Mehrwert zu erkennen, den ich erbrachte. Trotzdem arbeitete ich noch 7 Jahre weiter im Rollstuhl; insgesamt war ich 14 Jahre als Leiterin der Personalabteilung im internationalen Anlagenbau tätig.

DSE: Und wie war der Übergang?

KS: Als ich das Unternehmen verließ, war mein Mann drei Jahre zuvor gestorben, ich hatte eine Stammzellentransplantation hinter mir und hatte hart gearbeitet, um meinen Job zu behalten. Doch dann kam der Punkt, an dem ich einfach nicht mehr konnte.

Als es mir wieder besser ging, gründete ich auf Facebook eine Gruppe für positiv-denkende Menschen mit und ohne Behinderung.

Heute kann ich nur noch meine rechte Hand bewegen. Ich habe mich beruflich neu erfunden und bin Autorin, Mentorin und Keynote-Speakerin. Heute coache ich Frauen mit Behinderung, die Führungskräfte werden wollen.

Derzeit bin ich fast die einzige Coachin mit Behinderung, die als Personalleiterin in Deutschland gearbeitet hat und kann vermitteln, wie man in einem unternehmerischen Umfeld erfolgreich sein kann.

DSE: Du hast mir einmal erzählt, dass du zu Beginn deiner Vorträge offenlegst, dass du als Personalleiterin nie einen Menschen mit Behinderung eingestellt hast.

KS: Ich hoffe, dass sich die Manager*innen mit meinem früheren ich identifizieren können, um dann einen Umdenkungsprozess einzuleiten.

Ich versuche ihnen zu vermitteln, wie mein Prozess aussah, bis ich meinen eigenen Mehrwert als Arbeitnehmerin mit Behinderung entdeckte. Aufgrund meiner Erkrankung werde ich darauf trainiert, nach Lösungen zu suchen, anstatt Zeit mit der Diskussion von Problemen zu verbringen. Ich habe gelernt, positiv zu denken.

Das sind Fähigkeiten, die ich jeden Tag in meinem Leben anwenden muss, genau wie viele andere Menschen mit Behinderung.

DSE: Du warst sowohl Personalleiterin als auch eine Person ohne Behinderung. Ich bin neugierig zu erfahren, was in deren Köpfen vorgeht, wenn sie mit Behinderung konfrontiert werden.

KS: Wenn Manager Menschen mit Behinderungen sehen, sind sie möglicherweise schockiert, sie wissen nicht, wie sie mit dieser Person umgehen sollen, sie denken: "Oh je, diese Person wird eine Mehrbelastung sein, ich habe keine Zeit dafür."

Ich fokussiere mich auf das, was die Menschen über das Thema Behinderung denken, helfe ihnen ihren Mindset zu verändern und biete dafür Lösungen an.

Als mein Mann starb, bat ich meinen Vorgesetzten, meine Kolleg*innen darüber zu informieren. Viele wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten. Manche umarmten mich, andere schauten weg, wieder andere dachten, Lachen sei verboten. Ich half ihnen mit dieser speziellen Situation umzugehen. Das ist eine vergleichbare Situation.

Wir wissen nicht, wie wir auf jemanden reagieren sollen, der anders ist, weil wir uns unsicher fühlen. Wir mögen diese Art von Begegnungen nicht. Ich habe das selbst erlebt. Ich bin ein Mensch mit Behinderung, aber als ich eine blinde Frau coachen durfte, war ich unsicher und bat ich sie, mir einen Einblick in ihre Welt zu geben, um sie besser verstehen zu können.

DSE: Du erinnerst mich an eine bestimmte Situation. Als ich ein blindes Kind war, das eine normale Schule besuchte, hatte ich ein Ritual. Jedes Mal, wenn ich einen neuen Lehrer oder eine neue Lehrerin hatte, ging ich am ersten Tag auf ihn oder sie zu, stellte mich vor, erklärte meine Behinderung - dass ich nichts sehen kann - und versicherte, dass es ganz einfach sei: "Wenn Sie an die Tafel schreiben, sprechen Sie bitte laut mit, was Sie schreiben, damit ich tippen kann. Wenn wir an unserem Buch arbeiten müssen, teilen Sie mich bitte mit einem Schüler oder einer Schülerin zusammen ein, damit er oder sie für mich lesen kann." Ich habe meine Behinderung zusammen mit der Lösung vorgestellt.

KS: Siehst du? Es ist so einfach. Ein Ratschlag für meine Coachees, die zu einem Vorstellungsgespräch gehen, ist: Vermittle dem/r Manager*in ein Gefühl der Sicherheit. Sprich seine oder ihre Ängste an. Erkläre ihnen, wie du dein Arbeitsleben meistern wirst. Gib ihnen das Gefühl, dass sie nicht die ganze Verantwortung tragen müssen und dass alle Hindernisse gelöst werden können.

Sozusagen: "Das bin ich; du denkst vielleicht, dass dies ein Problem ist, aber das ist es nicht, denn ich werde tun, was nötig ist, um es zu lösen. Es ist einfacher, als du denkst."

DSE: Abschließend: Was ist deine Vision für die berufliche Eingliederung von Menschen mit Behinderungen?

KS: Der Prozess wird sicherlich noch viele Jahre dauern. Heute ist meine Mission, die Trennung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung aufzuheben und die Teilhabe zu beschleunigen. Ich plane ein Projekt mit einem ehemaligen Personalleiter mit Behinderung. Wir müssen uns auf diejenigen konzentrieren, die die Unternehmen und Organisationen verändern können: Personalverantwortliche, Entscheidungsträger*innen und Politiker*innen.

Das Interview wurde von Pepe Macías für DSE geführt.